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Abstracts der Vorträge

Severina Laubinger (Tübingen)

„Wir stehen für den Weg aus der Krise!“
Argumentative Einbindung des Krisen-Topos in den Parteiprogrammen der BRD 1949 bis 2013
In diesem Vortrag wird die These vertreten, dass Krisen keine objektiv gegebenen Phänomene darstellen, sondern dass der Krisenbegriff strategisch für die eigene Zielsetzung eingesetzt werden kann. Die Krise wird somit als persuasives Phänomen mit rhetorischer Funktion betrachtet. Von den Parteien werden Parteiprogramme mit einer klaren persuasiven Zielsetzung in den politischen Diskurs eingebracht. Sie eignen sich daher ideal, um die argumentative Verwendung des Krisen-Topos zu analysieren. Zudem ermöglicht ihr regelmäßiges Erscheinen alle vier Jahre den Verlauf der Krisendiagnosen außerhalb von diskursiv bestimmten Zeiträumen zu untersuchen. Bei der Analyse der Parteiprogramme von 1949 bis 2013 in der BRD zeigt sich zunächst, dass nicht alle Parteien zeitgleich die gleichen Krisen benennen. Bündnis 90/ Die Grünen und die PDS/ Die LINKE bringen beispielsweise als neue politische Parteien auch neue Krisen auf die politische Agenda. Bei der Untersuchung der argumentativen Verknüpfung des Krisen-Topos wird deutlich, dass die Krise zur Stärkung der eigenen Position genutzt wird. Die Aufmerksamkeit wird gezielt auf die aus parteipolitischer Position heraus entscheidenden Missstände und damit verbundenen Handlungsaufforderungen gelenkt. Eine Krise bestärkt die Führungs- und Lösungskompetenz der jeweiligen Partei: „Die Union wird unser Land aus der Krise hinausführen.“, „Wer Grün wählt, stimmt für einen Weg aus den Krisen.“ Zum anderen wird die Krise auch genutzt, um die Fehlleistungen der gegnerischen Partei anzuprangern: „Die große Koalition hat viele Menschen enttäuscht. Große Krisen – große Koalition?“, „7 Jahre Rot-Grün haben Deutschland in eine tiefe Krise gestürzt.“. Dieser Vortrag arbeitet heraus, für welche vielseitigen argumentativen Ziele der Krisen-Topos genutzt wird. So offenbare eine Krise lange verdeckte Probleme der Gesellschaft, kann aber gleichzeitig den Blick auf Wandel und eine glorreiche Zukunft freimachen. Die systematische Topos-Analyse der Parteiprogramme über einen langen Zeitraum hinweg ermöglicht neuartige Erkenntnisse außerhalb diskursiv gesetzter Grenzen. Der Focus auf die rhetorische Wirkungsmacht der Krise liefert entscheidende Anstöße, um das Phänomen besser zu verstehen.


Matthias Attig (Heidelberg)
Abstraktion und Konkretion als funktionale Leistungen des ‚Krisen-Neologismus‘
Neologismen wie »Grexit« fungieren als semantische Kennungen für Reflexionsfiguren oder argumentative Schemata, die an Geschehnissen ansetzen, die als krisenhaft dargestellt werden: Sie bezeichnen die Kristallisationspunkte öffentlicher Meinungsbildung, indem sie Thesen, Folgerungen oder Handlungsoptionen, die in den Debatten über eine Krise leitmotivisch zur Sprache kommen, auf eine griffige Formel bringen und an die Stelle des Gedankens treten, aus dem sie hervorgingen und den sie ihrerseits ratifizieren, so strittig er auch sein mag. Sie ermöglichen es mithin, komplexe Inhalte zu evozieren, und entbinden die Sprecher von der Aufgabe, diese zu artikulieren, wodurch sie ihrer Profilierung und dem Fortgang oder der Umdisponierung der Debatte den Weg bereiten. Denn indem das Schlagwort das Gedachte in eine fixe diskursive Koordinate ummünzt, schafft es die Voraussetzung für eine Vertiefung bzw. Erweiterung des Problemkreises; die gesellschaftliche Reflexion bliebe statisch, wenn es nicht gelänge, bestimmte Gehalte dauerhaft in den Diskurs zu implementieren, so nämlich, dass sie nicht von Neuem exponiert werden müssen. Freilich kann durch eine konzise sprachliche Prägung auch bisher nicht oder nur ansatzweise Diskutiertes einen kanonischen Zug erhalten, so als ob es gesellschaftlich sanktioniert worden wäre. Das hängt wesentlich daran, dass hier ein lexikalischer Code Anwendung findet, der von jedem entschlüsselt werden kann. Für die Akzeptanz einer konzeptuellen Setzung sind jedoch neben der Lesbarkeit auch die Eingängigkeit und Suggestionskraft ihrer sprachlichen Prägung ausschlaggebend. Diese Kriterien scheint der Neologismus »Grexit« auf exemplarische Weise zu erfüllen, denn er ist zum lexikalischen Kernbestand des Diskurses um die europäische Krisenpolitik avanciert und sprachlich produktiv geworden, indem er – freilich apokryphe – Analogiebildungen wie »Schwexit« nach sich zog. Ich möchte die skizzierten Zusammenhänge anhand einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung einschlägiger Medientexte nachvollziehen, die möglichst viele sprachliche Parameter in ihrem Zusammenspiel beleuchtet und die semantische Konfigurierung der Neologismen durch ihre kontextuelle Rahmung und metasprachliche Kommentierung kenntlich zu machen sucht.


Clemens van Loyen (München)
Die Krise der Schrift und die Krise des historischen Bewusstseins
In zahlreichen Texten des jüdischen Kulturphilosophen Vilém Flusser (1920-1991) ist das Wort ‚Krise‘ zentraler Bestandteil seiner Argumentation. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat der Begriff seinen Ausgangspunkt bei Husserls Krisis-Schrift von 1935 und erhält für Flusser von da an seine Bedeutung, insofern dieser bei seinen Essays zu Kultur und Natur keinen positivistischen, streng einzelwissenschaftlichen Zugang, sondern einen phänomenologischen und dialogisch offenen, mitunter gängige Konzepte dekonstruierenden Weg wählt, um eingefahrene Dichotomien zu lösen und Diskussionen zu provozieren. Flusser ist ein Denker, der die Grenzen zwischen den Einzeldisziplinen durchlässiger gestalten möchte und sich nicht in eine bestimmte akademische Richtung zwängen lässt – man kann sein Vorgehen positiv als interdisziplinär werten oder andersherum als eklektisch einstufen.
In dem Vortrag sollen Brücken zwischen Kultur-, Medien- und Geschichtswissenschaft geschlagen werden, die heute unter dem Dach der „Mediologie“ zunehmend an Solidität gewinnen. Die Überlegungen knüpfen an Flussers Texte zum Ende der Schrift und zur „Krise der Linearität“ an. Sie handeln von der Art, wie wir Informationen senden und hinterfragen zugleich, ob der lineare, schriftliche Code eine zeitgemäße Form symbolischer Übertragung ist. Flusser hat die ‚mediale (Re)Volte‘ hin zu den auf digitalen Codes basierenden Bildern als ‚Visionär der neuen Medien‘, wie er verschiedentlich auf Klappentexten genannt wird, in seinen Schriften antizipiert und kritisch reflektiert. Er bindet dabei Mediengeschichte an Geschichte bzw. an das Bewusstsein von Geschichte. Für ihn bilden Geschichte und Fortschritt einen linearen Prozess, der sich unumkehrbar wie die Schrift von einer Richtung in die andere schiebt. Vor der Schrift, zur Zeit der „magischen Bilder“, habe es überhaupt keine Geschichte gegeben, die Dinge hätten sich lediglich „ereignet“, so Flusser in Die Schrift. Momentan befinden wir uns in einem Stadium, in dem nicht mehr der schriftliche Code, sondern das digital komputierte Bild unsere Kommunikation bestimmt. Statt zu schreiben, wischen wir beispielsweise auf Smartphones und anderen Dispositiven. In Flussers Terminologie wären wir damit in der „Nachgeschichte“ angekommen.
Ziel des Beitrags ist folglich, mit Flusser der gegenwärtigen Kultur- und Medienrevolution nachzugehen, die Frage nach einem vermeintlichen Kulturpessimismus zu stellen und Chancen auszuloten, die sich im Verlauf der Krise ergeben können.


Christoph Steier (Zürich)
Architext Krise
Zur diskursiven Logik literarischer Krisennarrative am Beispiel des Vormärz
Der literarische Charakter gesellschaftlicher Krisendiskurse ist im Anschluss an Hayden Whites Metahistory ausgiebig erörtert worden, ohne dass dem Umkehrschluss die gebührende Aufmerksamkeit zugekommen wäre: Ohne Erzählung keine Krise, ohne Krise aber auch keine Erzählung. Davon kündet bereits das Strukturmodell der attischen Tragödie, deren Metapherngeschichte mit jener von krísis nicht zufällig seit mehr als zweitausend Jahren interferiert. Wenn aber die krisenhafte Gefährdung des Helden die Lebensversicherung der Fabel ist, rückt die Haltung der Erzählung zum Erzählten ins zweite Glied: Jeder empörten, engagierten, souveränen, mitleidigen, humorvollen oder sonstigen Behandlung des erzählten Unglücks geht dessen systemische Notwendigkeit voraus: Solange die Erzählung ein Problem hat, hat sie selbst keines. Daraus resultiert eine gewisse Vorhersagbarkeit literarischer Krisennarrative als Form, die ihrerseits verlässlich dann als krisenhaft erlebt wird, wenn entweder „das alte Lied“ (Heine) zu oft gesungen wurde oder aber drängende gesellschaftliche Veränderungen nach literarischer Formgebung rufen, die im Rahmen des strukturell Möglichen stets nur eingeschränkt zu leisten ist.
Im sogenannten Vormärz, hier verstanden als Zeitraum zwischen 1815 und 1848, treffen genau dieser Ennui des Überlebten und das soziale Bedürfnis nach literarischer Wirksamkeit als ästhetische Krisenkatalysatoren zusammen und eröffnen damit in so unterschiedlichen Figuren wie dem greisen Formalisten Goethe, dem sarkastischen Romantiker Heine, dem fatalistischen Revolutionär Büchner und weiteren programmatischen Kippfiguren wie Fanny Lewald, Annette von Droste-Hülshoff oder Karl Immermann das Feld der Moderne, das noch seinen eigenen Krisen-begriff als krisenhaft erfahren wird. An die Stelle des noch in den 1960er-Jahren vertretenen Phantasmas von der Literatur als krisenerprobtem ‚Gegendiskurs‘ tritt bereits in der Konstitutionsphase des modernen literarischen Feldes zu Beginn des langen 19. Jahrhunderts ein epistemologisches Kaleidoskop von Krisendiskursen, deren programmatisches Schwanken zwischen einer strukturellen und einer ereignisgeschichtlichen Perspektive unsere Schwierigkeiten mit dem Topos der Krise bis heute prägt.


Natalia Fuhry (Dortmund/ Augsburg)
Theater als Wirtschaftsbarometer – Szenarien der Finanzkrise bei Brecht und Jelinek
Auch wenn häufig Kritik laut wird, dem Theater mangele es an Aktualität, scheint sich diese These im Hinblick auf wirtschaftliche Phänomene vielfach nicht zu bestätigen. So wurde beispielsweise sowohl der Börsenkrach von 1929 als auch die Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts künstlerisch verarbeitet. Dass das Theater zu einem Schauplatz der Finanzwelt werden kann, auf dem Krisen prophezeit und dargestellt sowie ihre Ursachen, Folgen und gesellschaftlichen Auswirkungen diskutiert werden, möchte ich in meinem Vortrag an zwei Beispielen verdeutlichen: Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1932) und Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns (2009).
Dem Börsenkrach von 1929 und der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise verleiht Brecht mit seiner Geschichte um Johanna Dark ein literarisch-theatrales Erscheinungsbild. Brecht verhandelt in seinem 1932 zunächst als Hörspiel im Radio gesendeten Weltanschauungsdrama die Brutalität der Finanzmärkte, die vor allem die untersten Schichten der sozialen Leiter beutelt. Der Kampf seiner Titelhelden gegen die Mächtigen der Gesellschaft wird ein vergeblicher bleiben, der seine tragische Zuspitzung darin erfährt, dass Johannas Taten das Leid der Arbeiter noch vergrößern und die Machtposition der Wirtschaftsbosse zementieren.
Wie das Theater auch im digitalen Zeitalter des permanenten Nachrichten- und Informationsstroms aktuell sein kann, zeigt sich nicht zuletzt an Jelineks Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns, mit deren Verfassen die österreichische Literaturnobelpreisträgerin bereits 2007 begonnen hatte, also noch bevor sich weltweit die Auswirkungen der ersten Finanzkrise des 21. Jahrhunderts bemerkbar machten, in der Banken, Groß- und Kleinunternehmen sowie private Anleger Bankrott erlitten. Ausgehend von der Krise österreichischer Banken beschreibt Jelinek die Auswüchse des Kapitalismus und dekonstruiert mit ihrem kompositorischen Sprachstil die ökonomischen Prozesse, verzichtet auf Figuren und personifiziert stattdessen Geld, Bank und Börsenkurse. Durch Wortneuschöpfungen wie „Minuswachstum“ und „Verluste erwirtschaften“ findet sie eine eigene charakteristische Sprache, in der Literatur und Wirtschaft ineinander verschmelzen.
Erika Fische-Lichtes Performanzbegriff folgend, entlarven sowohl Die heilige Johanna der Schlachthöfe als auch Die Kontrakte des Kaufmanns die für ihre jeweilige Zeit gesellschaftlichen Machtströmungen und machen wirtschaftliche Ereignisse wie die gesättigten Märkte, Lohnstagnationen und Spekulationsblasen theatral wirksam.


Thomas Traupmann (Salzburg)
Mimesis der Krise
„Die letzten Tage der Menschheit“ als po(i)etisches Archiv
Mein Vortrag widmet sich Karl Kraus’ Letzten Tagen der Menschheit und damit einer „Epochenbilanz“ (F. Achberger) des 20. Jahrhunderts, die sich als unmittelbare literarische Reaktion auf den Ersten Weltkrieg gestaltet. Den „Grundton dieser Zeit“ festzuhalten ist der Anspruch, den der Nörgler – als Autor-persona inszeniert – im Drama stellt. Wenn jedoch im Vorwort der Letzten Tage der Menschheit die berühmte Feststellung getroffen wird, dass die „grellsten Erfindungen […] Zitate“ seien, so ist damit mehr als nur ein „Skandal des Wörtlichen“ (R. Niehoff) angekündigt. Ausgehend von dieser eigentümlichen Formulierung stellt mein Vortrag die Frage nach den Schreibverfahren, derer sich Kraus bedient, um (s)eine krisenhafte Gegenwart literarisch zu bewältigen und in Szene zu setzen. Die letzten Tage der Menschheit können – so meine These – als ein poietisches Archiv erachtet werden, das die ‚Stimmen der Zeit‘ nicht nur selektiert, aufbewahrt und abrufbereit hält, sondern eine regelrechte Diskursmaschine installiert, die die Möglichkeiten des Sagbaren ausreizt: das Zitat impliziert bei Kraus nämlich immer auch schon ein Moment der poiesis. Seine Position oszilliert folglich zwischen dem Bestreben nach Originalität und der mimetischen Abbildung des ‚Realen‘, zwei Haltungen respektive Schreibweisen, die einander bei Kraus wechselseitig durchdringen und bedingen. In den Blick genommen wird auch die genuine Materialität der Schreibszene: Schneiden und Schreiben gehen bei Kraus ein dekonstruktives Bündnis ein; dabei wird das vor allem aus Presse und Reklame stammende, zirkulierende Material unterbrochen, zerstückelt und den Letzten Tagen der Menschheit einverleibt. Das Drama wächst damit zu einem immensen Materialkomplex an, der von einer eminenten Prozessualität geprägt ist und sich durch eine spezifische Verkettungslogik auszeichnet, deren Offenlegung vielversprechende Einblicke in Kraus’ Fortschreibung der Krise zu bieten vermag.


Natalie Moser (Basel/ Berlin)
Erzählen nach der (fraglichen) Krise des Erzählens
Zu Josef Haslingers Anti-Heimat-Text „fiona und ferdinand“ (2006)
Die Reden von einem Neuen Erzählen und einer Renaissance des realistischen Erzählens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts legen die Vermutung nahe, dass sich das deutschsprachige Erzählen in einer Krise befand. Doch um welche Krise handelte es sich und inwiefern kann das Erzählen in der Krise sein? Oder sollte man eher fragen,
welche Funktion die gegenwärtige retrospektive Krisen-Diagnose erfüllt, die mit der Rede vom neuen realistischen Erzählen einhergeht?
Der Zusammenhang zwischen Krisendiagnose und Lob des realistischen Erzählens soll im Rahmen eines Referats (Themenkomplex 2 des CFP) anhand einer kurzen Erzählung aus Josef Haslingers Erzählband zugvögel (2006), fiona und ferdinand, diskutiert werden. Die Erzählung handelt von einer ausbleibenden Aufarbeitung der Vergangenheit und von Krisen, die durch diese Lücke induziert werden. Krisen wie das Chaos in einem Dorf aufgrund eines Gerüchtes werden allerdings lediglich zitiert, so auch Motive wie die Idylle oder Gattungen wie die Liebesgeschichte. Das Krisen eigene Entscheidungsmoment spart das Erzählen jeweils aus, wodurch gleichermaßen detailliert und offen, d.h. der Kontingenz der Lebenswelt verpflichtet, erzählt werden kann. Krisen-Narrateme scheinen folglich besonders produktiv zu sein, um Realitätseffekte und damit verbunden eine möglichst realistisch wirkende Wirklichkeit zu erzeugen.
Anhand von Haslingers Text kann gezeigt werden, 1.) inwiefern Krisen eine (Rück-)Besinnung auf die (nahe) Wirklichkeit hervorrufen; 2.) zweitens dieser Wirklichkeitsbezug im Text als krisenaffin entlarvt wird und 3.) ein realistisches Erzählen praktiziert werden kann, das sowohl zeichen-, also selbstreflexiv ist und zugleich den Anspruch auf Realismus nicht aufgibt.


Christian Chappelow (Frankfurt a.M.)
Lyrisches Krisenbewusstsein und die Dreifachkatastrophe von ‚Fukushima‘
Mit der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 veränderte sich auch für viele japanische Dichter schlagartig die Vorstellung vom Schreiben als Zeitgenossenschaft: Die „Aufgabe“ war es nun, auf die Ereignisse im Norden Japans zu reagieren, sowie das sprachliche Potential zeitgenössischer Lyrik an Hand dieser gesellschaftlichen Krise neu zu orten. Der aus der betroffenen Präfektur Miyagi stammende Journalist, Schriftsteller und Lyriker Henmi Yô sucht in seinem im November 2011 erschienen Gedichtband Me no umi (Das Meer der Augen) die sprachästhetische Auseinandersetzung mit den Bildern seiner zerstörten Heimat. Er kritisiert die Berichterstattung japanischer Medien scharf und versucht, das Bild einer gesellschaftlichen und politischen Fundamentalkrise sprachlich aufzuzeigen. Andere Strategien der Kritik verfolgen die Dichter Wakamatsu Jôtarô und Satô Shigeko, deren Gedichte zu Fukushima offen Atomkritik üben, sowie der (ehemalige) „Twitter Dichter“ Wagô Ryôichi mit seinen Heimat- und Trostgedichten.
Die Diversität dieser lyrischen Krisenkonstruktionen nach 3/11 gilt es festzuhalten, eröffnet sie doch noch weitreichendere Fragen, denen sich der Vortrag stellen möchte: Ob „Fukushima“ langfristig eine Zäsur für japanische Lyrik stellt, ob man eine japanische Einzigartigkeit in der Konstruktion von „Krisen“ auch literarisch attestieren kann, und in wie fern Krisenbewusstsein kulturell oder doch rein kreativem Moment folgend literarisch umgesetzt wird.


Valerie Kiendl (München)
Mit Gazpacho, Schauspiel und Pistolen aus der Krise
Krisenbewältigung und Identitätsstiftung bei Pedro Almodóvars ‚Frauen‘
„Estoy harto de ser buena/ Ich will nicht mehr brav sein“ sagt die wohl berühmteste chica almodovariana, Carmen Maura, in einer viel zitierten Szene, wenn sie ein Gazpacho mit einer Packung Schlaftabletten für ihren ewig untreuen Geliebten mischt und damit zugleich ihren Weg in die emanzipierte Selbstständigkeit antritt. Seit Beginn seines Filmschaffens inszeniert Pedro Almodóvar das weibliche Geschlecht in der Krise. Doch unterscheiden sich seine krisengebeutelten Frauen von denen, die zur Mitte des Jahrhunderts die Leinwände mit ihren emotionalen Niedergängen füllten. Almodóvars Frauen halten sich nicht lange im Selbstmitleid auf. Das gilt für alle (grob drei zu unterscheidende) Typen von Frauen: für die junge, unerfahrene Frau, die mit der Krise erst umzugehen lernen muss, ebenso wie für die Frau, die im Krisenmanagement schon eine gewisse Übung hat, wie für die Diva, die ihre Krisen gerne in anderen Rollen auf der Bühne austrägt.
Wie sieht aber die Krisenbewältigung und die anschließende Identitätsstiftung bei Almodóvar aus? Wie werden Frauen in Krisensituationen inszeniert? Wie artikulieren sie ihre Krise? Und wie verändern sich Raum, Sprache, Farben, etc. wenn sie ihren Weg aus der Krise antreten und meistern? Es soll hier also um eine Sprache der Krise auf textueller ebenso wie auf medialer, ästhetischer Ebene analysiert werden.
Ausgangspunkt der meisten Krisen bei Almodóvar ist der Mann. Immer wieder stehen Frauen im Mittelpunkt der Erzählung, die unter ihrem dominanten oder untreuen Macho leiden. Die Lösung dieses Verhältnisses ist häufig dieselbe: Regelmäßig werden Männer erstochen oder erschossen. Die bisherigen Tätigkeiten der guten Hausfrau, wie kochen oder putzen, dienen dann der Vertuschung der Tat und werden dabei gewissermaßen neu semantisiert zum finalen Reinigungsritual in doppeltem Sinne. Mit ihrem Ausweg aus der Krise bezeichnen sie zugleich den Übergang von dem alten patriarchalen (diktatorischen) System hin zu einem freien (demokratischen). Doch ist allen Frauen gemein, dass sie in eine Sprachkrise und -unfähigkeit fallen, sobald sie nach ihren Problemen gefragt werden. Die Artikulation der Krise läuft bei Almodóvar nicht selten auf intertextueller und intermedialer Ebene, insofern die Frauen von ihren Problemen erst in anderen Rollen (Job, Film, Theater, Literatur) und in anderen Räumen (Fernsehen, Bühne, Film, etc.) erzählen können. Doch schieben diese Fremdbezüge die Artikulation auch immer wieder in die Nähe der Ironie und Doppeldeutigkeit. Diese Distanzierung zur eigenen Krise ist aber nicht als Verdrängung, sondern vielmehr als Möglichkeit einer Selbstreflexion zu verstehen. Hierbei winden sich die Frauen unter anderem durch Schauspiel und Improvisation langsam aus ihrer festgefahrenen Situation und gehen über in ein neues selbstbestimmtes Sein.
Der Beitrag verfolgt die Untersuchung der Krisenbewältigung auf mehreren Ebenen. Als Grundgerüst sollen die unterschiedlichen Frauentypen dienen. Das Durchlaufen mehrerer Phasen (Erkennen der Krise, Artikulieren der Krise, Veränderung und Überwindung) sowie die ästhetische Teilhabe der Kamera daran wird zuletzt in Wechselbeziehung gesetzt zur Entwicklung Almodóvars hin zum Melodram. Die Krise bei Almodóvar ist „ein Frauenproblem“.


Anne Gnausch (Berlin)
„Die Selbstmordepidemie“
Suizid im Krisendiskurs der Weimarer Republik
Die Weimarer Zeit gilt in der historischen Forschung als eine Zeit der Krise. Die Debatte über Krise war allgegenwärtig in der Weimarer Republik. Der Historiker Detlev Peukert bezeichnete die Epoche gar als „Krisenjahre der Klassischen Moderne“ (Peukert, 1987). Der Suizid war in dieser Zeit „Gravitationszentrum weltanschaulicher und politischer Kontroversen“ und diente als „Projektionsfläche für Krisenwahrnehmungen“ (Baumann, 2001, S. 10 u. 323). Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Phänomen des Suizids erreichte in der Weimarer Republik einen Höhepunkt und es wurde in den tagesaktuellen Medien aufgegriffen und diskutiert. Für viele der Diskursteilnehmer manifestierte sich in den Zahlen der jährlichen Selbsttötungen die Misere der modernen Gesellschaft und nach 1918 verbreitete sich die Auffassung, die Zeit allgemeiner Unsicherheit, politischer Unordnung, sozialer und wirtschaftlicher Not treibe die Suizidzahlen unweigerlich in die Höhe. In den späten 1920er Jahren lieferten Zeitungen täglich Berichte von „Selbstmord-Tragödien“, die auf die Virulenz der Thematik in der Weimarer Zeit verweisen (Loewenberg, 1932, S. 68).
Ausgehend von diesem Befund untersucht der geplante Beitrag sowohl die Konstruktion des Krisendiskurses der Weimarer Zeit als auch die Rolle des Suizids darin. Es wird danach gefragt werden, wie mittels Sprache der Zusammenhang zwischen Krise und Suizid hergestellt wurde. Als Quellen für diese diskursanalytische Untersuchung dienen verschiedene Tages- und Wochenzeitungen (z.B. Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt) sowie weitere zeitgenössische Publikationen.


Björn Hayer (Koblenz-Landau)
Transzendente Melancholie
Krisenerfahrung in künstlerischer Transformation. Melancholielyrik als Bewältigungsmodus
In Krisenzeiten hat die sogenannte Melancholielyrik, die Ludwig Völker 1983 erstmals in einer Anthologie versammelte, Hochkonjunktur. Gegenüber der politischen Poesie, die auf eine bewusste Veränderungsintention der Realität abzielt, hält die schwermütige Rede einen alternativen Umgang mit gesellschaftlichen Umbruchssituationen bereit. Ohne sich der Wirklichkeit zu entziehen, für deren Erschütterungen gerade das melancholische Subjekt eine besondere Sensibilität besitzt (Vgl. Schmid 2012), wird eine Wiederherstellung der äußeren Welt im inneren vollzogen. Wie Guardini (Vgl. Guardini 1963) und Völker (Vgl. Völker 1978) konstatieren, wohnt dem schwermütigen Temperament eine therapeutische Wirkung inne. Sie ermöglicht es dem Grübler und Zweifler, den Riss zu heilen und die Traurigkeit über eine unerlöste Welt zugleich in eine produktive Form der Poetisierung zu transformieren. Die Melancholie als Muse gewinnt somit Züge einer Anti-Krisenmethode, welche in der Literaturgeschichte immer wieder vexierbildartig künstlerisch zum Ausdruck kommt.
Der geplante Beitrag verfolgt die Ambition, die besondere Eignung des Melancholiediskurses als Krisendiskurs anhand der dreier gleichnamiger Gedichte – „An die Melancholie“ von Johann Jakob Guoth, Friedrich Nietzsche und Hermann Hesse – herauszustellen. Es gilt dabei stets auch den gesellschaftspolitischen Horizont einschneidender Moderneerfahrungen (Technisierung, Rationalisierung, Profanisierung usw.) im Blick zu behalten, da nur so der kompensatorische Effekt einer auf Transzendenz und Alternativität gerichteten Melancholielyrik erkennbar wird.


Hannah Klima (Karlsruhe)
Scheitern als Option – Produktives Potenzial der Krise des Romans um die Jahrhundertwende in Carl Einsteins Romanexperiment „Bebuquin“
„Das Künstlerische beginnt mit dem Worts anders“ proklamiert der Protagonist Bebuquin in Carl Einsteins gleichnamigen Werk. Mit diesen Worten spricht er die Situation der Romanliteratur nach 1900 an – es ist eine prekäre, die Otto Flake später als „Krise des Romans“ benennt und die sich zur bedeutendsten Umbruchsituation in der neueren Romanpoetik entwickelt.
Die Tradition des Romans des 19. Jahrhunderts wird angesichts der völlig veränderten Lebenswelt nach der Jahrhundertwende – cum grano salis bis zum Erscheinen von Döblins Berlin Alexanderplatz gefasst – als überkommen wahrgenommen. Die Realität ist in ihrer Totalität nicht mehr zu erfassen, sondern zerfällt in subjektive Einzelwahrnehmungen und fragmentierte Realitäten. In Anbetracht einer zunehmend komplexen, vieldeutigen und schwer durchschaubaren Wirklichkeit, auf die der Roman sich aufgrund seiner Gattungsgeschichte am engsten bezieht, suchen Autoren unterschiedlicher Provenienz nach innovativen Erzähltechniken und adäquaten Ausdrucksmitteln.
Der Beitragsvorschlag stellt Carl Einstein in das Zentrum des Interesses, obwohl dieser kaum als kanonisierter Autor bezeichnet werden kann, ja die Schwerverständlichkeit seines Oeuvres, das begrifflich schwer zu fassen ist und sich häufig einer Deutung versperren will, gar zu einem Topos der Forschung avancierte. Doch dessen einziger, 1912 erschienener Roman Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunder ist meines Erachtens der radikalste Versuch, die strikte Abwendung vom konventionellen, vorwiegend mimetischen Erzählprinzip im Rahmen der Krise des Romans der klassischen Moderne zu gestalten. In seiner avantgardistischen Radikalität ist er eine Ausnahmeerscheinung, an die erst vierzig Jahre später im Nouveau Roman angeschlossen wird.
In toto kann der Bebuquin als ein Roman über den Roman gelesen werden, der in höchstem Maß vom Krisenbewusstsein seiner Entstehungszeit geprägt ist. Seine zentralen Themen kreisen um die Dissoziation des Ich, die Verschmelzung zwischen Subjekt- und Objektebene sowie um die Frage, wie es noch möglich sein kann, die Moderne zu schreiben. Das alles macht diesen bemerkenswerten Text spannend für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung im Kontext einer krisenhaften Zeit.